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ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Dr. h.c. Ursula Lehr
Rollenverlust des „Alters“ in unserer Gesellschaft
In jungen Gesellschaften, in denen ältere Menschen Seltenheitswert
haben, werden diese besonders geehrt und geachtet. In früheren Zeiten
wurden gerade den Älteren richterliche, lehrende und heilende
Funktionen zugeschrieben. Sie genossen als Ratgeber, als Übermittler
der Traditionen, als Erfahrene eine ganz besondere Achtung.
Dies gilt in unserer Zeit schon lange nicht mehr. Funktionen des
Speicherns, Behaltens und Erinnerns wie auch die Weitergabe von Wissen
und Informationen werden heutzutage weitgehend durch moderne
Technologien ersetzt.
Das Alter in einer alternden Gesellschaft wie der unseren ist durch
einen Rollenverlust gekennzeichnet. „Der alte Mensch wird nicht mehr
gebraucht“ ist eine weit verbreitete Einstellung heute, die allerdings
an der Realität vorbeigeht. Was würde unsere Gesellschaft ohne „die
Alten“ machen? Es kommt darauf an, die Stärken des Alters zu
erkennen und auch zu nutzen.
Es gibt nicht zu viele Alte in Deutschland, sondern zu wenig Junge
Der demografische Wandel, der Kopfstand der Bevölkerungspyramide ist
nicht nur durch mehr Alte, sondern durch weniger Junge zustande
gekommen. Jenen, die von einer „Überalterung“ unserer Gesellschaft
reden, sollte man klar machen, dass wir an einer „Unterjüngung“ leiden.
Wir haben nicht zu viele Alte, wir haben zu wenig Junge.
Wir werden älter als Generationen vor uns, sind aber dabei auch
gesünder und kompetenter als unsere Eltern und Großeltern im gleichen
Alter – wenn sie dieses überhaupt erreicht hatten. Aber man zählt heute
länger zur Jugend und wird früher den Senioren zugeordnet, wird früher
„alt“ gemacht!
Diese Ausdehnung der Jugendzeit und die Vorverlegung des Seniorenalters
trotz besserer Gesundheit und vorhandener Kompetenz führen zu einer
Verkürzung des eigentlichen aktiven mittleren Erwachsenenalters.
Wir haben die ältesten Studenten und die jüngsten Rentner. Wir ordnen
den Menschen bis 35 den Jugendgruppen zu, zählen ihn ab 45 zu den
„Älteren Arbeitnehmern“, geben ihm ab 50 keine Berufschancen mehr und
schieben ihn ab „55plus“ zu den Senioren. Wir beschneiden das
eigentliche, aktive mittlere Erwachsenenalter von beiden Seiten und
lassen es auf 15 bis 20 Jahre zusammenschrumpfen. Trotz gegenteiliger
wissenschaftlicher Erkenntnisse wird der ältere Arbeitnehmer (und zu
dieser Gruppe zählt man bereits ab 45 Jahren!) als leistungsgemindert
eingestuft.
Altern kann in vielen Bereichen ein Gewinn sein
Nach den Ergebnissen deutscher und internationaler Forschungen
ist dieses negativ getönte Altersbild nicht zu rechtfertigen. Ein
generelles Defizit-Modell des Alterns ist in Frage zu stellen. Altern
muss nicht Abbau und Verlust bedeuten, sondern kann in vielen Bereichen
geradezu Gewinn sein, eine Zunahme von Kompetenzen und Potenzialen, und
damit eine Chance – für den Einzelnen und die Gesellschaft.
Das latente, nachweislich jedoch vorhandene Potenzial des Alters bedarf
zu seiner Manifestation sowohl einer von den Individuen getragenen
Initiative als auch einer gesellschaftlich-kulturell organisierten
Begünstigung: der Einzelne sollte sich seiner persönlichen Interessen
und Ziele klar werden und nach deren Verwirklichung streben; es bedarf
aber auch gesellschaftlicher Angebote, die ältere Menschen motivieren
mitzuarbeiten, sich einzusetzen, sich zu engagieren.
Die weitaus meisten älteren Menschen sind bereit und fähig,
Verantwortung für sich selbst zu übernehmen, im Vollzug der eigenen
Lebensgeschichte Lebenssinn zu finden, das Ihre zu einem gesunden und
kompetenten Altern beizutragen - aber auch das eigene gelebte Leben und
die eigene Endlichkeit anzunehmen. Das ist ein Aspekt der Reife des
Alters.
Die meisten älteren Menschen sind aber durchaus auch bereit,
Verantwortung gegenüber ihrer Familie, gegenüber anderen Menschen,
gegenüber der Gesellschaft zu übernehmen. Sie sind bereit zur
Produktivität im Sinne des Wirkens für andere, sei es im Rahmen des
bürgerschaftlichen Engagements, als ehrenamtliche Betätigung, sei es
als Brückenfunktion zu nachfolgenden Generationen oder auch als Einsatz
für die noch lebenden alten Eltern. Von den pflegenden Angehörigen sind
rund 35% selbst 65 Jahre und älter!
Alte und Junge müssen gemeinsam Verantwortung übernehmen
Doch wir sollten den Generationenkonflikt nicht weiter schüren. Nur
gemeinsam können wir die Herausforderungen der Zukunft meistern.
Jüngere, Mittelalterliche und Ältere haben zugleich Gebende und
Nehmende zu sein. Wir sollten nicht länger fragen „Ist das Alter noch
zu bezahlen?“ oder „Ist unsere heutige anspruchsvolle Jugend noch zu
bezahlen?“, sondern wir sollten gemeinsam Verantwortung für uns und die
Gesellschaft übernehmen. Wir brauchen den Dialog zwischen den
Generationen und nicht einen Macht- und Verteilungskampf. Wir brauchen
gemeinsames Tun, nicht gegenseitige Vorwürfe und Beschimpfungen; wir
brauchen gegenseitiges Verständnis. Wir brauchen die Möglichkeit, dass
Junge von den Alten lernen, aber auch, dass Alte von den Jungen lernen.
Ältere Menschen sind ein bedeutender Wirtschaftsfaktor
Fast täglich liest man in der Zeitung von „Alterslast“, „Rentenlast“,
„Pflegelast“. Ältere werden nur als Lastquoten gesehen und – in
der Sprache der Versicherung – als „Langlebigkeitsrisiko“. Warum
diskutiert man nur die Kosten der Alten und nicht die Nutzen? Warum
sieht man den älteren Menschen nicht als Verbraucher, als Gewinn, als
Werte-Schaffenden?
Rentner sind ein Wirtschaftsfaktor – und das nicht nur im Hinblick auf
Kukident, Sehhilfen, Hörgeräte, Treppenlifte, Gehhilfen usw. Manches
Reiseunternehmen könnte schließen, wenn es die Senioren nicht gäbe –
und manche Senioren wären durchaus bereit, mehr auszugeben, wenn das
entsprechende Angebot da wäre.
Ältere sind nicht einseitig als „ökonomische Belastung“ zu sehen, denn:
1. Gerade sehr viele Ältere haben sowohl Vermögen als auch eine positive Sparquote, bilden also Vermögen und beteiligen sich damit am Prozess der Wertschöpfung.
2. Auch Arbeit, die nicht als Erwerbsarbeit ausgeführt wird (Kinderbetreuung, Pflege, Ehrenamt), ist eine nicht zu unterschätzende ökonomische Aktivität
3. Ältere sind eine starke Konsumenten-Gruppe.
4. Ältere sind auch Steuerzahler und beteiligen sich somit nicht unerheblich an der Finanzierung von Staatsausgaben.
Finanzielle Transfers innerhalb der Familien gehen vorwiegend von den Älteren zu den Jüngeren.
Wir brauchen keine Politik für ältere Menschen, sondern Politik mit und von älteren Menschen
Unser Land steht vor großen Herausforderungen – nicht nur des
demografischen Wandels wegen, sondern der wirtschaftlichen, politischen
und gesellschaftlichen Situation. Wir alle müssen dazu beitragen, dass
sich unser Land erholt. Senioren sind dazu bereit, Opfer zu bringen,
Einschränkungen hinzunehmen, aber diese müssen gerecht und sinnvoll
sein. Senioren fordern zum einen Planungssicherheit – und zum anderen
Generationengerechtigkeit. Doch wenn wir von
„Generationengerechtigkeit“ reden, sollten wir neben der finanziellen
Belastung auch andere Aspekte bedenken wie Bildungschancen, geleistete
Lebensarbeitszeit, übernommene Verantwortung für die Familie und
Gesellschaft sowohl in der Vergangenheit als auch heute.
Eine zukunftsorientierte Politik muss eine Politik nicht nur für,
sondern mit und zum Teil auch von alten Menschen sein. Sie muss einmal
ältere Menschen als eine bedeutsame Zielgruppe politischen Handelns
begreifen. Schließlich zählen heute 24% der Bevölkerung zu den
Senioren, 2030 werden es 35% sein. Unsere Gesellschaft ist alles andere
als altenfreundlich; sie hat immer noch nicht realisiert, dass schon
heute einem über 75jährigen nur noch 12,4 Personen gegenüberstehen, die
jünger als 75 sind! 1890 standen einem über 75jährigen gleich 79
jüngere gegenüber, 2040 werden es nur 6,2 sein und 2050 werden auf
einen über 75jährigen nur noch 5,5 Personen kommen, die jünger als 75
sind. Weit stärker als bisher hat die Politik in einer „Gesellschaft
des langen Lebens“ eine umweltgestaltende Aufgabe, um eine selbständige
Lebensführung möglichst lange zu gewährleisten.
Eine zukunftsorientierte Politik muss sich aber auch stärker um
Behinderte und Pflegebedürftige kümmern, muss den Grundsatz
„Rehabilitation vor Pflege“ Realität werden lassen und die Prävention
stärker fördern. Sie muss realisieren, dass Familienpflege in Zukunft
ihre Grenzen hat und ein Ausbau der ambulanten Pflege wie auch der
institutionellen Pflege (in den unterschiedlichsten Wohnformen) nötig
sein wird – und das bei einer hohen Qualität.
Jeder von uns, in jedem Alter, trägt Verantwortung für sich, die
Familie und die Gesellschaft. Für Junge und Alte gilt in unserer Zeit
voller Veränderungen:
„Fange nie an aufzuhören
und höre nie auf anzufangen!“
Prof. Dr. Dr. h.c. Ursula Lehr war von 1988 bis 1991 Bundesministerin
für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit und ist Gründungsvorstand
des Deutschen Zentrums für Alternsforschung (DZFA) an der Universität
Heidelberg.
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